Shurjoka

Joka · @Shurjoka

24th Sep 2020 from TwitLonger

Ein offener Brief an Twitch


Hallo Twitch,

ich bin eine deiner Content Creator. Seit 6 Jahren streame ich über deine Plattform und hab dieses Jahr sogar ein Viertel meiner Zeit mit dir verbracht. Damit haben wir wohl mehr Zeit verbracht, als ich mit jedem meiner anderen Freunde verbracht habe.
In dir hab ich ein wundervolles Hobby entdeckt und diese Leidenschaft ist täglicher Teil meines Lebens.

Und auch wenn ich dich unglaublich gerne habe, müssen wir mal reden:

Ich fühle mich nicht sicher und ich bin mir nicht sicher, ob du das siehst.



In Deutschland gab es 2019 70.000 Anzeigen wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, sogenannte Sexualdelikte.
Ein Viertel der erfassten Opfer von Sexualdelikten waren Jugendliche im Alter von 14-18 Jahren.
In etwa 68% der erfassten Täter waren Erwachsene.

Die Dunkelziffer wird vom Bundeskriminalamt noch weit, weit höher eingestuft. Gerade wenn es um „kleinere Delikte“ geht, wird oft auf eine Anzeige verzichtet. Das hat unterschiedlichste Gründe, aber vor allem die gesellschaftliche Stellungnahme zu vergleichsweise harmlosen Delikten wird als Faktor aufgezählt. (und Ja, das Nachahmen von sexuellen Geräuschen in der Öffentlichkeit Personen/gruppen gegenüber ist sexuelle Belästigung)

Wir sind Meister darin, über-griffige Situationen als alltägliche, normalisierte Gegebenheiten anzunehmen und zu akzeptieren. Gerade das Internet als Hochburg der anonymisierten Belästigung und Diskreditierung ist so übersättigt mit Vorfällen, dass wir diese normalisieren und nicht mehr in ihrer eigentlichen Härte wahrnehmen. Das ist ein unglaubliches Problem, denn während wir als Gemeinschaft uns daran gewöhnen, öffnen wir damit die Türen für immer mehr Vorfälle und entmächtigen Opfer darin, sich zu schützen oder gar zu Wehr zu setzen.

Twitch ist zu einer gesellschaftlichen Bubble verkümmert, in der es ausreicht eine Frau zu sein um mit allgemein akzeptiertem Hass, Belästigung, Einschüchterung, Diskreditierung und öffentlicher Bloßstellung rechnen zu müssen, genährt von Vorurteilen und populistischen Contentmaschen die tagtäglich von euren Content Creatoren bedient und gefüttert werden.
Ihr positioniert euch öffentlich gegen Sexismus, Homophobie und Rassismus, unterstreicht ein Diskriminierungsverbot auf eurer Plattform in den TOS und dennoch kenne ich drei mal so viele Twitch Streamer die durch schwere Diskriminierung im Stream aufgefallen sind und noch immer streamen, als jene die dafür gebannt wurden.
Ihr sagt ihr wollt Frauen auf Twitch besser schützen und arbeitet an besseren automatisierten Chat Bots um die Symptome zu bremsen, statt die Ursache zu verhindern.
Eine Plattform, in der „Be Gone Twitch Thot“ ein Meme wurde und „SIMP“ als Wort entstellt wurde, um 2020 tatsächlich noch gegen Männer zu hetzen die sich normal Frauen gegenüber verhalten, braucht keinen besseren Chat Bot sondern ein Mitarbeiter Team, dass sich an die eigens auferlegten TOS hält und das Recht hat, diese durchzusetzen.

Ich bin es Leid, alle paar Wochen ein neues „Statement“ zu lesen, dass Belästigung, egal welcher Form, verharmlost und normalisiert. Ich bin es Leid, eine Plattform zu verteidigen, der vorgeworfen wird dass sie aus wirtschaftlichen Gründen nicht auf Regelverstöße reagiert, wenn ich mir nach all den Jahren selber nicht mehr sicher bin ob das vielleicht wirklich so ist.
Ich bin es Leid, dass ich nach jedem Stream und jedem Post zu sexueller Ungleichheit unendlich viel Hass, Belästigung und öffentliche Degradierung erfahren muss während männliche Creator öffentlich Anzweifeln, ob es Sexismus überhaupt gibt und/oder die Debatte so unendlich ins Lächerliche ziehen, dass ein Diskurs völlig unmöglich gemacht wird.

Twitch verkümmert zu einer zu tiefst Menschenverachtenden Plattform, in der Minderheiten nicht nur ausgegrenzt sondern gezielt rausgemobbt werden und solange man als Twitch Streamer nur eloquent genug ist, wird man dafür nicht zur Rechenschaft gezogen weil der Kontext bei der Verteilung von Strikes offensichtlich nicht berücksichtigt wird und es reicht, wenn es schon „oft genug passiert ist“ oder „das Schimpfwort nicht schlimm genug war“.

Ich will nicht Angst davor haben, meinen eigenen Namen auf YouTube einzugeben weil ich dort ungefragte Video-Ausschnitte aus einem Stream oder von einem Event von mir zu finden, wo anzügliche Kommentare, Geräusche oder rein sexueller Hintergrund draufforciert wird und ich keine Chance habe mich dagegen zu wehren, da Twitch den persönlichen Humor von einzelnen Individuen über die Menschenwürde von Anderen stellt.



Bitte Twitch,
Du musst besser werden.
Du musst deinen Content Creator schützen.
Du musst deine Zuschauer schützen.
Auch die Kleinen.


Pia

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