charonsdead

Sami · @charonsdead

8th Dec 2013 from TwitLonger

Als Dank für Deine wunderbare Poesie, lieber @WORTlieb, ein grünes Blatt dir zu:

Das Leben wird uns gegeben und genommen, aber es gibt Augenblicke, da wir es verdienen, will sagen, da es von uns abhängt, ob es weitergeht oder aufhört. Und das sage ich in Erinnerung an jene grausame Nacht im Krankenhaus, als ich in dem Gefühl, verloren und ohne jeden möglichen Beistand zu sein, hilflos weinte, denn seit Tagen schlief ich nicht, verdunstete mein Körper in der Transpiration, standen mir Schläuche und Sonden aus der Nase, dem Mund, dem Darm, der Harnröhre, der Vene, dem Brustkorb. Ich wünschte mir, dass mir alles weggenommen würde, vor allem meine Schmerzen. Eine Krankenschwester kam, beschwerte sich über mein Geschrei und gebot mir unwirsch, zu schweigen. Da Kranke zu Kindern werden, gehorchte ich und trieb in der nächtlichen Stille dahin. Auf einmal sah ich durchs Fenster, dass es Tag wurde, und hörte leisen Vogelgesang. Der Frühling kam. Ich wusste, dass es im Krankenhaus einen mit Bäumen bestandenen Innenhof gab, und stellte mir vor, dass die ersten Blätter sprießen. Und ein Blatt war es, das mich am Leben erhielt. Ich wollte es sehen. Ich konnte nicht sterben, ohne dieses Zimmer zu verlassen und, sei es auch nur vorübergehend, in die Natur zurückzukehren. Dieses grüne Blatt sich gegen den Himmel abzeichnen sehen. Welche absurden Überlegungen brachten mich auf den Gedanken, dass mein Leben davon abhinge, dieses grüne Blatt zu sehen? Und ich strengte mich an, leistete Widerstand, kämpfte, denn es würde Tag werden und man würde mir erlauben, durchs Fenster in den Innenhof zu schauen. Der Arzt gestatte es einige Tage später. Auf der Krankenbahre wurde ich nach unten gefahren. Und als ich in den Hof kam, sah ich die Bäume: Sie waren gnadenlos kahl, nur an einem einzigen Zweig war ein Blatt herausgekommen. Ein winziges, durchscheinendes, gegen den Himmel sich abzeichnendes, wundertätiges grünes Blatt.

Julio Ramon Ribeyro

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