Versagen - Immer wieder Aleppo


Die Bilder lassen mich nicht los. Immer wieder Aleppo. Und nachdem ich jetzt nach längerer Zeit wieder zu Hause bei meiner Familie war, schleppe ich wieder diese Anspannung aus meinen Kindertagen mit mir herum, denn mich überwältigen die eigenen Erinnerungen.
Ich sehe meine Eltern schlaflos durch unser Haus gehen. Nächtelang. Wochenlang. Ich bin ein Kind. Meine Eltern warten darauf, dass das Ferngespräch nach Bagdad endlich angenommen wird, während sie im Fernsehen mit ansehen, wie Raketen über den Irak fliegen. Es ist so unendlich mühsam, Kontakt zu unseren Verwandten aufzunehmen. Es gibt kein Internet. Es gibt nur unser altes Telefon. Immer wieder wählen sie die verschiedenen Nummern durch. Wenn die Verbindung zustande kommt, bricht sie häufig nach wenigen Sekunden wieder ab. Ich sehe meine Eltern immer in der Nähe des Telefons, sie warten auf ein Lebenszeichen. Ab und zu klappt es. Dann weicht die Anspannung. Aber niemals sind wir als Familie so ganz ohne Angst.

Diese Geschichte wiederholt sich drei Mal. Im ersten Golfkrieg (1980-1988), im zweiten Golfkrieg (1990-1991) und auch im dritten Golfkrieg (2003), also bei der Invasion durch die Koalition der Willigen. Jedes Mal legt sich die Ohnmacht auf unser Haus, auf die Familie. Jedes Mal diese Hilflosigkeit. Jedes Mal die Ungewissheit, ob alle noch am Leben sind. Und jedes Mal die Frage, wann das endlich aufhört. Die Frage nach dem Sinn hatten meine Eltern schon früh aufgegeben.

Ich kann daher nachfühlen, wie es den Menschen gehen muss, die hier oder anderswo leben und nun die Angriffe auf Aleppo verfolgen. Die Bilder, die uns tagtäglich erreichen, sind grauenhaft. Sie sind eine Schande. Sie zeigen uns nicht nur die Brutalität der Kriegsparteien, sie führen uns auch das Versagen der Weltgemeinschaft vor Augen.
Wozu gibt es denn den UN-Sicherheitsrat? Es ist doch eine Farce, denn alle Appelle verhallen im Bombenhagel. Der syrische UN-Abgesandte findet es angesichts dieser Situation dennoch lächerlich, dass man sich zwei Mal an einem Tag zu Gesprächen getroffen hat und fragt auch noch "warum". WARUM?

Weil Bomben auf Krankenhäuser und auf Hilfskonvois fallen. Weil Waffen benutzt werden, die nicht benutzt werden dürfen. Weil Verletzte nicht versorgt werden können. Weil Menschen verhungern und verdursten. Weil nicht mal eine 48-stündige Waffenruhe funktioniert. Weil Kinder trotz der Kämpfe lernen wollen und nicht können. Das neue Schuljahr hat gerade begonnen. Wer gegen wen wo mit welchen Waffen vorgeht, können nicht mal mehr Experten mit Sicherheit sagen. Es geht auch nicht um Schuldzuweisung.
Ich stelle mich mit diesen Worten auf keine Seite. Weder auf die der sogenannten Rebellen noch auf die Seite des Präsidenten, weder auf die der Russen, der Amerikaner, der Saudis, der Iraner oder sonstwohin. Obwohl ich täglich viel über Syrien lese, bleibt mir völlig unverständlich, welchen Zweck dieses Morden hat. Ich frage mich, warum man die Menschen aus Aleppo nicht einfach ziehen lässt. Warum kann man sie da nicht rausholen? Wenigstens die Kinder. Macht es nur Sinn, eine Stadt in Schutt und Asche zu legen, wenn „Zivilbevölkerung“ darin wohnt? Ich muss wieder an meine Eltern denken, an unsere Familie im Bombenhagel von Bagdad.

Meine Eltern stellen keine Fragen mehr nach dem Sinn. Ist das besser? Menschlichkeit ist eine Illusion, ein schöner Traum für Friedenszeiten. Wir alle schauen einfach nur zu. Nein, falsch: Wir machen die Augen zu. Denn die Bilder sind zu entsetzlich. Diese Hilflosigkeit hat sich seit Kindertagen in mich eingebrannt. Man möchte davonrennen und empfindet Scham. Es kann doch nicht sein, dass die WELTGEMEINSCHAFT so etwas geschehen lässt. Jetzt auch noch Abbruch der Gespräche. Aber ohne Hoffnung will ich nicht leben. Also findet doch verdammt nochmal eine Lösung.
dh
Tipp: "Das Schicksal der Kinder von Aleppo" von Marcel Mettelsiefen http://ZDFmediathek.de

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