Seelsorge:
Gut sein tut auf
Dauer nicht gut
Pfarrer und Ordensleute sind zunehmend
von Erschöpfungsdepressionen und Burnout
betroffen. Die Veränderungen in der Gesellschaft
und der Kirche machen auch vor ihnen
nicht halt. Wo aber finden sie Hilfe, wenn sie
nicht mehr weiterwissen?

Eigentlich ist Wolfgang Eßel ein fröhlicher Mensch. Der katholische
Pfarrer mag die Arbeit in seiner Gemeinde nahe Bamberg
gern, kann seine Ideen und seinen Glauben dort gut verwirklichen.
Doch vor vier Jahren war dem Geistlichen die Lust am Lachen
gründlich vergangen. In einer kirchlichen Einrichtung seiner Gemeinde
schwelte ein langwieriger und hartnäckiger Personalkonflikt,
den Eßel nicht schlichten konnte, weil beide Seiten verschiedene
Interessen verfolgten und sich unter keinen Umständen zusammenführen
lassen wollten. „In der Gesamtarbeit meiner Pfarrei wäre
dieser Arbeitsbereich eigentlich nur ein kleiner Teil gewesen“, berichtet
der 47Jährige.
„Doch er nahm immer mehr Raum ein. Das Ganze
belastete mich enorm, und irgendwann begann ich mich zu fragen,
was ich dort eigentlich noch tat.“ Für den Geistlichen war es zwar
stets in Ordnung gewesen, als Pfarrer nicht nur Seelsorger, sondern
auch Dienstherr verschiedenster Institutionen zu sein und viele administrative
Aufgaben zu übernehmen – doch jetzt hatte Eßel das
Gefühl, nur noch als ohnmächtiger Verwalter unliebsamer Aufgaben
anzutreten. Zu seiner eigentlichen Berufung, der seelsorgerischen
Tätigkeit, kam der Geistliche kaum noch. Er geriet ins Zweifeln. Sollte
er sich innerhalb der Diözese eine andere Gemeinde suchen? Oder
die Gemeindearbeit lieber ganz an den Nagel hängen und sich in der
Kirche nach einer neuen Aufgabe umschauen? Die berufliche Krise
schlug ihm aufs Gemüt. „Ich weiß nicht, ob man es nun Burnout
oder Depression nennen sollte“, überlegt Eßel heute, „aber es war, als
ob ein grauer Schleier über mich fiel. Alles schien so düster, ich fühlte
mich unendlich traurig und müde.“ Wie gut, dass Pfarrer Eßel auf
dem Höhepunkt seiner Krise eine nächtliche Talkshowsendung sah.
Denn dort berichtete ein Priester von seinen Erfahrungen im RecollectioHaus.
Das RecollectioHaus
ist eine Einrichtung der Benedik

tinerabtei Münsterschwarzach und bietet katholischen Priestern,
Ordensleuten und kirchlichen Mitarbeitern psychotherapeutische
und geistlichspirituelle
Hilfe in Krisensituationen. Weit über tausend
Geistliche und andere kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen
haben sich dort behandeln lassen.
Die Veränderungen in der Gesellschaft und der Kirche machen
auch vor den Geistlichen nicht halt. Die zunehmende Arbeitsbelastung
in den Gemeinden, die Kirchenkrise, die hohe Idealisierung des
seelsorgerischen Berufs bei der gleichzeitigen Entwertung der geistlichen
Profession durch die vielen bekannt gewordenen sexuellen
Missbrauchsfälle der vergangenen Jahrzehnte – all das trägt dazu bei,
dass immer mehr Pfarrer von Burnout und Erschöpfungsdepressionen
betroffen sind. Zudem leidet die katholische Kirche seit Jahren
unter massivem Mitgliederschwund und hat aufgrund dessen mit
starken finanziellen Einbußen zu kämpfen. Hunderten Kirchen droht
die Schließung. Und immer weniger Männer wollen sich zum Priester
weihen lassen. Dass ein katholischer Priester heute am Wochenende
in drei verschiedenen Gemeinden Gottesdienste feiern muss,
ist ziemlich normal. Obendrauf kommen noch Verpflichtungen in
verschiedenen Kindergärten, Altenheimen und der Jugendarbeit.
Nicht allen Priestern gelingt es, trotz der hohen Arbeitsbelastung gut
auf sich aufzupassen. Viele von ihnen erschöpfen sich in ihrer Arbeit,
brennen aus. „Ihre berufliche Welt wird immer größer und die private
immer kleiner“, beschreibt Wunibald Müller, Psychologischer
Psychotherapeut, Theologe und Leiter des RecollectioHauses,
seine
Klienten. „Darüber vereinsamen viele.“ Mit Gesprächspsychotherapie
und spiritueller Begleitung, aber auch Sport und sogenannter
„Leibarbeit“ wie Feldenkrais versuchen Müller und sein Team, ihre
Klienten wieder aufzurichten.
Ähnlich ist die Situation in der evangelischen Kirche. Auch dort
hat sich die Arbeitsrealität der Pfarrer durch den Mitgliederschwund
in der Kirche und die knapperen finanziellen Mittel in den letzten
Jahrzehnten dramatisch verändert. Zwischen fünfzig und sechzig
Stunden liegt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit eines evangelischen
Pfarrers mittlerweile. Ein Privatleben gibt es kaum, auch nach
22 Uhr klopfen oft noch Gemeindemitglieder an die Türe. Gut ein
Fünftel aller evangelischen Pfarrer leidet laut einer 2008 erschienenen
Studie zur Arbeitsgesundheit von Pfarrern unter stressbedingten Gesundheitsstörungen.
„Kaum mehr ein Dekanat, in dem nicht ein oder
mehrere Pfarrer oder Pfarrerinnen sich über Wochen krankmelden
müssen, weil sie einfach nicht mehr können“, schreibt der Theologe
Andreas von Heyl in seinem „AntiBurnoutBuch
für Pfarrerinnen
und Pfarrer“.
Der hohe Stresslevel wirkt sich auch auf das Familienleben aus:
Die Scheidungszahlen in Pfarrersfamilien steigen. Nicht selten ist
irgendwann dann auch die Beziehung zu Gott beeinträchtigt. Und
da wird es schnell dramatisch. „Für einen gläubigen Menschen ist es
schon schwer genug, wenn die spirituelle Dimension nicht mehr
stimmt“, erklärt Müller. „Aber für einen Pfarrer oder Ordensmann,
der sein Leben auf eine besondere Beziehung zu Gott aufgebaut hat
und das noch in seinem Beruf konkretisiert, dem bricht gleich das
ganze Fundament weg. Die Leute werden depressiv.“

Doch nicht nur das gestiegene Arbeitsspensum,
auch die „Großwetterlage der
Kirche“ macht vielen Geistlichen mittlerweile
zu schaffen. Nach den Missbrauchsfällen
traten letztes Jahr 180 000 Deutsche
aus der katholischen Kirche aus – zum
ersten Mal verließen mehr Menschen die
Kirche, als neu getauft wurden. Auch aus
der evangelischen Kirche treten jährlich
etwa 150 000 Deutsche aus, bis zum Jahr
2040 erwartet die evangelische Kirche in
Deutschland gar einen Mitgliederrückgang
um rund ein Drittel auf etwa 16 Millionen
Gemeindemitglieder. Die allgemeine
„Glaubensverdunstung“ und das sinkende
Ansehen von Geistlichen aufgrund
der sexuellen Missbrauchsfälle trübt vielen
klerikalen Mitarbeitern die Seele. „Wenn die Kirchen leer
bleiben, rutscht das Selbstwertgefühl mancher Priester in
den Keller“, beobachtet Müller. „Sie fühlen sich dann nicht
mehr gut genug, empfinden sich als erfolglos. Wir arbeiten
hier hart daran, das Selbstwertgefühl nicht abhängig vom
Erfolg zu machen.“ Auch Andreas von Heyl glaubt, dass viele
Pfarrer und Pfarrerinnen das schwindende Interesse an
der Kirche als massive narzisstische Kränkung erleben. Denn
gerade der kirchliche Beruf eigne sich wie kein anderer zur
Besetzung mit narzisstischen Größenfantasien. „Es ist dringend
nötig, sich mit dieser Kränkung auseinanderzusetzen
und damit umzugehen“, schreibt Heyl. „Das ist aber gar nicht
leicht. Das käme einem Eingeständnis der eigenen Ohnmacht
gleich. So wirkt die Verletzung unterhalb der Bewusstseinsschwelle
und entfaltet ihre Wirkung auf der vorund
unbewussten
Ebene.“ Erschöpfung, Resignation und Zynismus
sind die Folge.
Doch selbst diejenigen, die motiviert bleiben, dürfen ihre
Pläne häufig nicht umsetzen oder erhalten keine Unterstützung
vonseiten der Kirchenleitung. In der katholischen Kirche
möchten viele Priester gern neue Formen der Messe entwickeln
– werden aber von Rom blockiert. Auch die evangelische
Kirche ist laut von Heyl von einem allgemeinen Klima
der „Liebund
Loblosigkeit“ geprägt, von der Doppelzüngigkeit
vieler Vorgesetzter und fehlender Kollegialität unter
Pfarrerskollegen. Innerhalb der Gemeinden sei die Zusammenarbeit
der Pfarrer mit den Kirchenvorständen und Ehrenamtlichen
ebenfalls oft anstrengend und emotional belastend.
Die Respektsperson Pfarrer hat – so scheint es – ausgedient.
„Es vergeht kaum ein Kurs, in dem nicht einer oder
mehrere unserer Gäste in einen sehr zugespitzten Konflikt
mit dem Kirchenvorstand oder Kirchengemeinderat … verwickelt
sind“, schrieb der Gründungsrektor des evangelischen
RespiratioHauses,
Hartmut Stoll, in einem Rechenschaftsbericht.
„Uns wird immer wieder von massivem Druck, von
Intrigen, auch übler Nachrede und Formen
des Mobbings vonseiten etwa des Kirchenvorstandes
oder des Kirchengemeinderates
berichtet. Die Konfliktgegner erscheinen
nach außen hin als sehr fordernd und
machtbewusst, zum Teil als Vertreter von
ganz dezidierten Vorstellungen über die
richtigen Frömmigkeitsund
Lebensstilformen,
an denen sie die hauptamtlich
Mitarbeitenden messen und oft verurteilen,
wenn sie diesen Vorstellungen nicht
zu entsprechen erscheinen.“
Der Pfarrer als Dienstleister im Gemeindehaus
– auch das ist ein neues Bild. Schritt
für Schritt verliert die Kirche ihre Vormachtstellung.
Doch immer öfter mangelt
es inzwischen auch den Seelsorgern selbst
an der notwendigen Identifikation mit den Werten der Kirche.
Vor allem katholischen Pastoralreferenten, aber auch
vielen katholischen Pfarrern und sogar manchen Bischöfen
fällt es schwer, die Sexualmoral ihrer Kirche in Bezug auf
Verhütung, Homosexualität oder Abtreibung zu vertreten.
Auch das Zölibat wankt: In Deutschland befürworten mittlerweile
75 Prozent aller deutschen Katholiken das Ende des
Zölibats. Doch auch hier bleibt der Papst unnachgiebig. „Was
macht es mit einem, wenn man merkt, dass man in Konflikt
gerät mit der Organisation, für die man eigentlich Funktionär
ist?“, fragt Müller. Und antwortet selbst: „Das führt zu
innerer Spannung und Entfremdung.“
Doch für diese inneren Spannungen gibt es oft kein Ventil.
Denn im Selbstbild vieler Pfarrer ist tief verankert, es
allen recht machen zu wollen. Das hängt nicht zuletzt mit
der hohen Idealisierung des seelsorgerischen Berufs zusammen,
der viele Pfarrer, Ordensleute und kirchliche Mitarbeiter
wohl bewusst oder unbewusst nacheifern. „Die Menschen
nehmen es einem übel, wenn man im Auftrag Gottes kommt
und doch nur ein Mensch ist“, schrieb schon in den 1950er
Jahren der einflussreiche Theologe Karl Rahner. „Sie wollen
strahlende Boten, überzeugende Herolde, brennende Herzen.“
Doch diese Idealisierung darf kaum aufgelöst werden
– denn im christlichen Kontext wird Ärger tabuisiert. Der
Pfarrer, der seinem unleidlichen Gemeindevorsteher irgendwann
in scharfen Worten die Meinung sagt, ist also schnell
unbeliebt. Doch das Gutsein tut auf Dauer eben nicht gut.
Wunibald Müller muss seine Klienten manchmal erst ermutigen,
ihren Ärger überhaupt spüren und ausdrücken zu dürfen.
Doch nicht nur die gesellschaftlichen Umstände führen
katholische Pfarrer und Seelsorger häufiger in persönliche
Krisen. Immer öfter beobachten die Psychotherapeuten im
RecollectioHaus,
dass Pfarrer und Ordensleute Schwierigkeiten
haben, tiefe Beziehungen aufzubauen und das Zölibat

erfüllend zu leben. Wer das Zölibat wähle, müsse aber beziehungsfähig
sein, betont Müller. Denn nur wer in der Lage
sei, Nähe zu anderen Menschen zuzulassen und gleichzeitig
die Intims phäre anderer zu schützen und zu respektieren,
könne sich auch auf die Herausforderung des Zölibats einlassen.
Mitunter hätten Priester, Ordensleute und Priesteramtskandidaten
aber gerade damit keine Erfahrung. „Bei
manchen Pfarrkandidaten hat man den Eindruck, dass sie
das Zölibat gewählt haben, um sich eben nicht auf tiefe Beziehungen
einlassen zu müssen“, glaubt Müller, „dennoch
suchen sie nach Intimität. Und bei manch einem zieht diese
Suche dann Grenzverletzungen im seelsorgerischen Bereich
oder sogar Missbrauch nach sich.“ Auch eine verstärkte Nutzung
von Internetpornografie nimmt Müller wahr. „Manche
Kursteilnehmer leben in der irrigen Annahme, den Wunsch
nach sexueller Intimität über Pornografie lösen zu können“,
analysiert der Psychotherapeut. „Dahinter steckt häufig eine
große sexuelle Unreife.“ Manchmal sieht Müller bei ihnen
die Gefahr des spiritual bypassing, also der Vermeidung notwendiger
menschlicher Entwicklungsschritte – wie etwa der
Befähigung zur Intimität – durch eine Flucht in die Beziehung
zu Gott. „Das können wir nicht gutheißen“, so Müller.
„Unser Anliegen ist hier, den Menschen zu einer geerdeten
Spiritualität zu verhelfen. An sich arbeiten müssen sie trotzdem,
sie sind ja ein Teil dieser Welt.“
Dass dies im RecollectioHaus
gut gelingt, ist offensichtlich.
„Heute kann ich sagen, dass die Zeit im RecollectioHaus
die besten drei Monate meines Lebens waren“, meint Wolfgang
Eßel. „Ich konnte mir dort einen anderen Blick auf mich
und meine Arbeit aneignen. Heute muss ich mich nicht mehr
mit allen anfreunden. Ich kann mich besser abgrenzen und
auch mit Konflikten gelassener umgehen.“ Auch der spirituelle
Ansatz des RecollectioHauses
half Eßel, sich von den
eigenen Perfektionsansprüchen zu verabschieden. Die von
Anselm Grün vertretene „Spiritualität von unten“ sieht die
Herausforderungen eines spirituellen Wegs nicht in der Erlangung
von Tugendhaftigkeit und Selbstbeherrschung, sondern
in der Einsicht, dass der Mensch – und damit auch der
Geistliche – schwach, fehlbar und ohnmächtig ist. Eßel beschloss,
noch mal ganz von vorne anzufangen, um vieles
anders machen zu können. Er wechselte in eine andere Gemeinde.
Eine gute Entscheidung. „Alle Kursteilnehmer, die
in ihre alten Gemeinden zurückkehrten, hatten es deutlich
schwerer“, berichtet der Pfarrer. „Von denen wurde erwartet,
dass sie so weitermachen wie vorher.“

Wenn die Kirchen leer bleiben, empfinden das Seelsorger als
narzisstische Kränkung. Erschöpfung, Resignation und Zynismus sind oft die Folgen

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