(Hier mein Medienwoche-Kommentar in lesbarer Form.)

Liebe Medienwoche, lieber Thomas, lieber Nick

Glückwunsch zum neuen Projekt und viel Erfolg.

Gut, dass Ihr mit einem Artikel zu Twitter und Medien loslegt. Schade, dass Ihr den Artikel so auf Polemik bürstet und zu wenig auf die interessante Entwicklung in der Breite eingeht. Ich spüre nicht nur bei der NZZ, wo ich vermutlich dazu beigetragen habe, sondern generell einen deutlichen Aufwind der Twitter-Aktivitäten von Verlagen. Das nicht nur zu negieren, sondern es mit der Polemik «akute Twitterrhoe» per se runterzuziehen, wird dem Thema nicht gerecht. Gerade zum Start eines neuen Magazins, das eben kein weiterer Branchendienst sein will, hätte ich mir da eine differenziertere Betrachtung versprochen. Vielleicht kann Ronnie Grob helfen.

Kurz zu den drei aus meiner Sicht relevanten Themen: Private vs. geschäftliche Identität, Twitter-Policy, @fel_ch.


Private vs. geschäftliche Identität
Ich habe ja in meinem vorherigen Leben einige Twitter-Kurse für Firmen gegeben, und die erste Frage war immer: Soll ich als @firma oder als @vornamenachname twittern? Die Frage ist nicht trivial. Da Twitter als Consumer-Dienst entstanden ist und sich nach und nach auch in die Firmenwelt vorgearbeitet hat, gibt es ein buntes Sammelsurium bestehender Auftritte. Ich habe früher immer mich mit meinem Account @phogenkamp als Beispiel genommen, mit dem ich damals wohl mehr die Stimme meiner Firma Blogwerk war als der Account @blogwerk, was sich auch in den Followerzahlen niederschlug. Und mit dem ich, wie Du richtig schreibst, immer schon querbeet zu Arbeit, Familie, Technologie, Kulinarik und öffentlichem Verkehr getwittert habe. Andere, wie Johnny Haeusler vom deutschen Blog Spreeblick, halten es genau umgekehrt: Er twittert über einen ähnlichen Themenmix, aber als @spreeblick.

Ich habe immer allen empfohlen, auch wenn sie vor allem über Geschäftliches schreiben wollten, mit dem privaten Namen einzusteigen, solange es nur eine Person ist, die dahinter steckt, und wirklich geschäftliche Accounts nur zu nutzen für «Kombi-Accounts», die von einem Team bewirtschaftet werden (wie @nzz) oder die automatisch einen Feed vertwittern (wie @nzz_online). Am besten von allen, die ich einführen durfte, hat das @barbarajosef von Microsoft Schweiz umgesetzt, die nichts weniger erreicht hat als der vielen unsympathischen Firma eine sehr menschliche Note zu geben. «Robert Scoble has made Microsoft look more humane» hat vor Jahren mal jemand geschrieben, als der «Scobleizer» noch für Microsoft bloggte. Das hat Barbara Josef in der Schweiz nachgemacht, was keine geringe Leistung darstellt. Und es ist der richtige Twitternick, denn @microsoft_ch gibt es auch, der wird von der PR-Bude betreut -- und interessiert mich entsprechend deutlich weniger.


Twitter-Policy
Ich bin weiss Gott kein Anarchist, aber Twitter-Policy ist eine Contradictio in adiecto. Natürlich muss man den gesunden Menschenverstand walten lassen. Niemand sollte Geschäftsgeheimnisse twittern oder Schmähungen der Konkurrenten oder zu detaillierte Schilderungen der eigenen privaten Befindlichkeit oder was auch immer. Aber das gilt auch für alle anderen öffentlichen oder halböffentlichen Auftritte. Ich halte regelmässig Referate und gebe nicht selten Interviews zu Themen rund um Medien im Netz, Paid Content etc. Morgen Abend veranstalten wir eine Party für Kunden und Agenturen zum Launch unseres «NZZ-Netz». Gibt es eine Policy, was ich dabei sagen darf? Nein. Werde ich deshalb morgen auf der Bühne bei der Begrüssung der Gäste unappetitliche Zoten von mir Gästen, die meinem Arbeitgeber schaden? Ich glaube kaum.
Das gesagt werden wir tatsächlich einige Guidelines erarbeiten, wenn unser «Social-Media-Mann» Thom Nagy im März vor Ort ist, aber eher im Sinne von Ermutigung als von Restriktion.


@fel_ch
Markus Felber, den ich übrigens leider noch nie persönlich getroffen habe, ist, soweit ich das von aussen beurteilen kann, etwas widerfahren, das ich jedem nur wünschen kann (und das auch schon diversen anderen passiert ist, zum Beispiel @viktorgiacobbo, @AbtMartin oder @inside_it/Christoph Hugenschmidt, um noch einen Journalisten zu nennen): Er ist ohne grosse Erwartungen bei Twitter eingestiegen und hat dort eine Welt entdeckt, die viel grösser und reichhaltiger war, als er dachte. Er hat sich reinziehen lassen, was ich ganz positiv meine. Nach einer Zeit hat er dann realisiert, dass der Anteil «NZZ» an seinen Tweets deutlich zu klein ist, um den entsprechenden Namenszusatz im Nick zu rechtfertigen, daher hat er das umgestellt. Das finde ich nachvollziehbar und richtig. Abt Martin Werlen hat darüber sogar eine Rede gehalten: http://tedxzurich.com/2010/10/13/abbot-martin-werlen/. Bei 09:40 sagt er: «Listening to those from whom I expect nothing: That's why I like the Twitter community.» Genau darum geht's. Dieses Aufgehen in einer Community als «akute Twitterrhoe» zu bezeichnen, zeugt leider von einer gewissen Arroganz.

Twitter hat viele Gesichter. Ich selbst bin nicht derjenige, der jeden Tag stundenlang online ist, jedes Meme mitmacht, und jeder Sau, die durch Twitterland getrieben wird, selbst noch einen Klaps gibt. Mir fehlt dazu die Zeit, weil ich den halben Tag in Meetings verbringe. Aber wäre ich Heimarbeiter, ich wüsste, es wäre anders. Twitter verbreitet eine ganz eigene Art von Nestwärme, wie ich neulich mal erfahren durfte, als ich auf den Kopf gefallen bin. Das kann niemand verstehen, der es nicht erlebt hat.

Insofern würden und werden unsere Social-Media-Guidelines, wenn es sie denn mal gibt, dem lieben @fel_ch sicher keinen Witz verbieten. Zumal ich selbst das Alter für Altherrenwitze schon am Horizont aufziehen sehe.

Gruss, Peter

PS. Die Farbkombination Grau auf Grau im Kommentarfeld scheint mir verbesserungsfähig. Habe diesen Kommentar daher komplett im TextEdit verfasst, was aber auch kein Spass ist, weil die Autokorrektur einem konsequent «wittern» und «Tweeds» reinkorrigiert

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